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Bist du bereit?

Bist du bereit?

 

Zusammengekauert kniete Christina zwischen den zerrissenen Seiten. Nichts, gar nichts von dem, was sie zwei Jahre lang erarbeitet hatte, wurde auch nur ansatzweise in der Geschäftsleitung anerkannt. Voller Wut hatte sie ihre Aufzeichnungen zerrissen und nun kniete sie zwischen den Fetzen ihrer Arbeit.

Tränen tropften auf ein Papierknäuel. Die Tinte schwamm davon, wie Christinas Träume. Sie war sich ganz sicher gewesen, mit dieser neuen Entwicklung endlich den ersehnten Job als Projektleiterin zu bekommen und damit im neuen Jahr richtig durchzustarten. Und jetzt? Ob sie ihren aktuellen Job behalten durfte? Höhnisch grinste sie der Weihnachtsmann an, der neben ihrer Bürotür stand. Christina knüllte ein Papier noch fester zusammen und warf es dem Grinser gegen den Kopf. 

In diesem Augenblick ging die Tür auf und unter ihrem Schreibtisch hindurch erkannte Christina die Schuhe der jungen Kollegin Andrea. 

"Tina? Bist du gar nicht da?"

Sie hielt den Atem an. Sollte sie sich aufrappeln und unter dem Tisch hervorkriechen? Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von den Wangen. 

Andrea trat einen Schritt in den Raum, ging in die Knie und griff nach dem Wurfgeschoss. Christina wich zurück. Doch da trafen sich schon ihre Blicke.

"Was ist denn hier passiert?", fragte Andrea und deutete auf die Papierknäuel.

"Schlechter Job", gab Christina knapp zurück. 

"Von wem?"

"Von mir."

"Wer sagt denn sowas?"

"Die hohen Herren und Damen."

"Haben sie das so zu dir gesagt?" Andrea griff nach einem der Zettel und faltete ihn vorsichtig auseinander.

"Sie haben sich für Dirks Projektidee entschieden." 

"Haben sie dir gesagt, dass deins schlecht ist?" 

"Nein. Aber das haben sie mir ja deutlich gezeigt." Christina verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich am Tischbein an. 

Andrea rutschte neben sie. Einen Papierknäuel nach dem anderen nahm sie in die Hand und strich ihn glatt. "Ich würde die Aufzeichnungen nicht wegwerfen."

"Die braucht kein Mensch mehr." 

"Bist du dir sicher?"

"Sag mal, hast du eigentlich nicht gehört, was ich dir gesagt habe?" Christina warf Andrea einen wütenden Blick zu, rappelte sich auf, strich ihre Bluse glatt und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. 

Andrea sammelte alle auf dem Boden liegenden Zettel ein, strich einen nach dem anderen glatt und legte sie aufeinander. Die zerrissenen Blätter klebte sie zusammen. Christina beobachtete die junge Kollegin. Was sollte das? 

 

Erst als sie das letzte Papier auf den Stapel sortiert hatte, sah Andrea wieder zu Christina. 

"Kannst du mir sagen, warum du dir mit diesen Unterlagen so eine Mühe machst?", fragte die und fügte direkt an: "Lass dich bei dieser nutzlosen Arbeit nur nicht von den Chefs erwischen. Du hast bestimmt besseres zu tun."

"Du auch!", gab Andrea ungerührt zurück. 

Christina kniff die Augen zusammen. "Wie meinst du das?"

"Wenn jemand mit einer solchen Ausdauer wie du, ein so besonderes Projekt entwickelt, sollte da auch was draus werden."

"Habe ich auch gedacht."

"Schon mal drüber nachgedacht, dass die Absage der Chefs eine große Chance für dich ist?"

Christina schüttelte den Kopf. Wie sollte den eine Absage eine Chance sein?

"Na, es ist doch immer so. Wenn eine Tür sich schließt, geht eine andere auf." 

"Im Moment sind erst einmal alle Türen zu."

"Das kommt darauf an, wie du die Sache betrachtest."

Aus weit aufgerissenen Augen sah Christina die Einundzwanzigjährige an.

Andrea strich sich eine ihrer dunkelbraunen Locken hinters Ohr und lächelte. "Weißt du, wir haben immer eine Chance. Wir haben immer Gelegenheiten. Wichtig ist, dass du dich selbst fragst: Bist du bereit?"

Für ein paar Augenblicke war es still. Christina starrte auf den Papierstapel. Gedankenfetzen schwirrten ihr durch den Kopf. Sie versuchte, das eben Gehörte einzuordnen. Aber wie sollte sie denn die Sache anders betrachten? 

"Manchmal sehen wir nicht gleich, welche Chancen sich uns eröffnen. Aber wenn wir unser Herz öffnen und unserer Intuition vertrauen, gibt es immer einen Weg. Anders. Neu. Spannend. Bist du bereit?"

"Du meinst?" 

"Ich meine, du solltest die Unterlagen nicht wegwerfen." Mit einem Augenzwinkern verließ die junge Kollegin Christinas Büro.

 

Christina atmete tief durch, griff sich den Papierstapel und betrachtete ihre Aufzeichnungen. "Bist du bereit?", flüsterte sie.

 





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